BGH: Zu den Grenzen der zulässigen identifizierenden Verdachtsberichterstattung
Der Bundesgerichtshof hat mit einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 20.06.2023 noch einmal seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung konkretisiert (BGH, Urteil vom 20.06.2023 – Az.: VI ZR 262/21).
Konkret ging es um eine identifizierende Verdachtsberichterstattung des Nachrichtenmagazins „SPIEGEL“ und des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) über einen ausländischen Diplomaten. Im Rahmen mehrerer Beiträge über organisierte Kriminalität in Deutschland unter anderem im Zusammenhang mit Schleuseraktivitäten und Geldwäsche berichteten die beiden Beklagten unter voller Namensnennung auch über eine mögliche Involvierung des Diplomaten in entsprechende kriminelle Aktivitäten.
Der BGH entschied zu Gunsten des Diplomaten und untersagte alle streitgegenständlichen Äußerungen über den Diplomaten mit der Begründung, es handle sich um eine unzulässige Verdachtsberichterstattung, die sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt habe. Daran ändere auch der Hinweis in der Berichterstattung nichts, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Diplomaten wegen Geldwäsche eingestellt worden sei.
Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung fasste der BGH die Voraussetzungen für eine zulässige identifizierende Verdachtsberichterstattung noch einmal wie folgt zusammen:
Es ist ein Mindestbestand an Beweistatsachen erforderlich, der für die Richtigkeit der Information spricht und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleiht.
Die Darstellung darf zudem keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten, also nicht durch eine vorverurteilende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Tat bereits überführt.
Vor der Veröffentlichung ist regelmäßig auch eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen.
Schließlich muss es sich um einen Vorgang von erheblicher Bedeutung handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsinteresse der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.
Für die Verdachtsberichterstattung gilt, dass nach ständiger Rechtsprechung des BGH und des Bundesverfassungsgerichts eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, so lange nicht untersagt werden kann, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 GG, § 193 StGB). Eine Berufung auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen setzt voraus, dass vor dem Aufstellen oder Verbreiten der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über deren Wahrheitsgehalt angestellt worden sind. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für Medien grundsätzlich strenger als für Privatpersonen. Im Interesse der Meinungsfreiheit dürfen an die Wahrheitspflicht keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft, von diesem Grundrecht Gebrauch zu machen, mindern. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerer die Äußerung in das Persönlichkeitsrecht eingreift. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an der Äußerung zu berücksichtigen. Diese Grundsätze gelten auch für die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten. In diesem Verfahrensstadium steht lediglich fest, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, nicht aber, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen – auch konkreter Personen – aufzuzeigen. Dies gilt auch für die Berichterstattung über eine Straftat, da diese zum Zeitgeschehen gehört und die Verletzung der Rechtsordnung und die Beeinträchtigung von Rechtsgütern der betroffenen Bürger oder der Allgemeinheit grundsätzlich ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näheren Informationen über Tat und Täter begründet. Besteht allerdings – wie im Ermittlungsverfahren – nur der Verdacht einer Straftat, so sind die Medien bei besonderer Schwere des Vorwurfs wegen der damit verbundenen schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Ehre in besonderem Maße zur Sorgfalt verpflichtet. Dabei ist im Hinblick auf die Unschuldsvermutung die Gefahr zu berücksichtigen, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis einer Schuld gleichsetzt und deshalb im Falle einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängen bleibt“.
In seiner Entscheidung nahm der BGH ausdrücklich an, dass eine solche Gefahr nicht nur dann bestehen kann, wenn über ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren berichtet wird, sondern auch dann, wenn über das Ergebnis von Ermittlungen anderer staatlicher Sicherheitsbehörden – etwa des BND – berichtet wird, die mit dem Vorwurf der Begehung von Straftaten verbunden sind.
In dem konkreten Fall nahm der BGH an, dass die streitgegenständliche Berichterstattung den Anforderungen an die publizistischen Sorgfaltspflichten nicht genügte. Insbesondere fehle es an dem erforderlichen Mindestmaß an Beweistatsachen. Die berichtenden Medien hatten sich in ihren Veröffentlichungen auf ein behördeninternes Dokument des BND gestützt, welches nach Auffassung des BGH jedoch hinsichtlich der in der Berichterstattung enthaltenen Verdächtigungen nicht ergiebig gewesen sei. Bei einem solchen behördeninternen Dokument handle es sich auch nicht etwa um eine sog. „privilegierte Quelle“, auf deren Richtigkeit die Medien ohne weitere Nachforschungen hätten vertrauen dürfen. Schließlich sei dieses Dokument nicht für die Öffentlichkeit, sondern ausdrücklich nur für den Dienstgebrauch bestimmt gewesen.
Das Urteil des BGH bestätigt einmal mehr, dass die Anforderungen an eine zulässige identifizierende Verdachtsberichterstattung hoch sind. Dies gilt insbesondere für Presse und Medien, für die strenge Anforderungen an die publizistischen Sorgfaltspflichten gelten. Eine identifizierende Berichterstattung über den Verdacht der Begehung einer Straftat wird daher auch künftig insbesondere im Stadium des Ermittlungsverfahrens regelmäßig unzulässig und nur im Ausnahmefall bei Einhaltung aller oben genannten Voraussetzungen zulässig sein.